Quelle: Riesengebirgsheimat - Heimatblatt für die ehemaligen Kreise Trautenau und Hohenelbe - 48 Jahrgang Nr. 9
Die Stadt Trautenau, als Metropole
des Riesengebirges bekannt, war in früherer Zeit, so wie die meisten Städte
des Böhmerlandes, von einer wehrhaften Steinmauer umgeben, die in unsicheren
Zeiten und bei Kriegsgefahr Verteidigungszwecken diente und Schutz bot. Derlei
gefahrvolle und verderbenbringende Unsicherheiten, Bedrängnisse, Notlagen,
Raubzüge und Überfälle gab es in den vergangenen Jahrhunderten
in der Geschichte der Stadt in beängstigendem Ausmaße immer und immer
wieder. Sie reichten von Erpressungen, Belagerungen, Plünderungen, Brandschatzungen
bis hin zu Eroberung und Vernichtung. Oft konnte ein widerstandsfähiges,
stabiles Mauerwerk das Schlimmste hinhalten, bis nachbarliche Hilfe kam, und
die Katastrophe auf diese Weise ganz verhindern. Der Zugang in die mittelalterliche
Stadt Trautenau war nur durch die drei Stadttore möglich, die täglich
vor dem Zunachten -auch in friedlicher Zeit - von den Tor- bzw. Turmwächtern
sorgsam geschlossen wurden. Wer sich bis zu dieser Zeit nicht innerhalb der
Stadtmauer befand, klopfte vergeblich an die Pforte und mußte sich ein
Nachtquartier in der Vorstadt suchen. Nur eine Extrawurst und Sonderbehandlung
galt für die Post. Wenn der Postillon mit seinem Horn und dem unverwechselbaren
Ton sein "Trara, trara, die Post ist da!" freudig und frohen Herzens
in die Gegend schmetterte, dann, ja dann öffnete sich das Stadttor auch
zu nachtschlafender Zeit - ein Privileg - nur für den mit der Fanfare auf
dem hohen Kutschbock, für seine Rösser, die Kutsche und seine vornehmen,
gefürsteten, arg durchgeschüttelten Reisigen.
Trautenau hatte, wie schon erwähnt, drei Stadttore, durch die man in die Stadt
gelangen konnte. "Obertor" hieß das eine, das am Anfang der Prager Straße stand,
dort, wo sich Prager Straße, Gablenzstraße, die ehemalige Kaiserstraf3e und
der Tiefe Graben trafen. Unterhalb des Ringplatzes, gegen das Gebirge zu, wölbte
sich über die Gebirgsstra0e das "Mitteltor". Und schließlich gab es noch das
"Niedertor", das die Passage zur Spittelbrücke freigab. Von diesem Tor, das
auch das preußische oder schlesische genannt wurde, soll nun die Rede sein.
Es stand dort, wo Rinnelstraße, Krankenhausgasse, Brückengasse, das Lindwurmgäßchen
und die Schlesische Straße am sogenannten "Scharfen Eck" ihren Anfang hatten.
Über dem Durchlaßgewölbe, das durch ein massives, mit Eisen beschlagenes, hölzernes
Tor tags geöffnet, nachts und in unsicherer Zeit durch Schloß und Riegel gesichert
geschlossen wurde, erhob sich ein verhältnismäßig niedriger Turm mit einer Gefängniszelle"
in der im Jahre 1494 der Trautenauer Bürger Paul Kolbe, der an und für sich
in seinem Häuschen vor dem Niedertor wohnte, die letzten Stündlein seines Lebens
verbringen mußte. Er hatte sich an dem Mord seiner Ehefrau, die ein Kind erwartete,
mitschuldig gemacht. Diese verwerfliche, bestialische Untat beging auf sein
Anstiften der Bruder des Mädchens Anna auf dem Schüttboden, denn Kolbe hatte
mit Anna ein Verhältnis. Für die Mordtat beschenkte Anna ihren Bruder mit Leinwand
auf ein Hemd. Und wie endeten die Schuldigen? Paul Kolbe saß lange in der Zelle
des Niedertorturmes, verweigerte die Nahrung, wollte Hungers sterben und wurde
schließlich gerädert. In seinem Testament vermachte er sein Anwesen dem Spitale,
wahrscheinlich, um seine Schuld zu tilgen. Das Mädchen Anna verscharrte man
lebendig in der Erde, ihr Bruder Justin entzog sich der Bestrafung, indem er
nach Schlesien entfloh.
Die Aufsicht und Bewachung war, wie es scheint, nicht immer in starker Hand.
Im Jahre 1524, in dem übrigens beim Niedertor über die Aupa eine Brücke gebaut
wurde, war Torwächter Urban Kotzwer, ein Mann im Alter von 100 Jahren. Er versah
den Dienst mit Unterstützung seiner Frau, die an Jahren auch nicht jünger war.
Im 16. Jahrhundert, das Durchschnittsalter betrug seinerzeit 20 bis 30 Jahre,
galt ein so hochbetagtes, uraltes Ehepaar als Kuriosum und Abnormität. Der Chronist
Simon Hüttel erwähnt, daß sonst nirgends in der Gegend so alte Leute zu finden
sind. Nur Janke Behem, der auch 52 Jahre Torwächter bis zum Jahre 1581 war,
erreichte das hohe Alter von 80 Jahren. Im Jahre 1548 durchschritten alle Bewohner
der Stadt das Niedertor, weil eine Volkszählung stattfand. Damals lebten in
147 Behausungen, wenn wir die 98 Personen dazuzählen, die vor den Toren der
Stadt wohnten, ungefähr 1200 Einwohner.
Vor dem Niedertor wuchs im Laufe der Zeit, manchmal etappenweise, so nach und
nach die Niedervorstadt. Zuerst waren es Scheunen, Schuppen und Remisen. Aus
dem Jahre 1562 haben wir einen Bericht, der besagt, daß dem Erzeuger von Schießpulver,
mit Namen Nüßle, durch Unvorsichtigkeit in einer Scheune Feuer ausbrach, das
noch zwei weitere Holzschuppen am Vieh weg vor dem Niedertor erfaßte und einäscherte.
Simon Hüttel zog damals eigenhändig den Strang der Feuerglocke im Rathaus, um
Schlimmes zu verhüten. In der Nähe des Niedertores befand sich vom Jahre 1569
an einer von den beiden Friedhöfen der Stadt, der Friedhof für arme Schlucker,
Selbstmörder und Rebellen. Bei dem verheerenden Stadtbrande im Jahre 1861 erlitt
das Niedertor arge Beschädigungen. Im Jahre 1874 forderten die Bewohner der
Niedervorstadt vom Stadtrate die Beseitigung, das Schleifen des "Torhauses".
Aber noch aus dem Jahre 1876 erfahren wir, daß durch das festlich geschmückte
Niedertor der Kronprinz Rudolf anläßlich der 10jährigen Wiederkehr des Gedenktages
an das Gefecht und den Sieg bei Trautenau feierlich in die Stadt einzog. Doch
in den folgenden Jahren entging das Niedertor seinem Schicksal nicht. In einem
Aufwaschen wurde auch das einfache Haus des Torwächters im Jahre 1890 mit abgerissen.
Auf diesem geräumigen Platze entstand ein für die damalige Zeit sehr repräsentables,
mehrstöckiges Gebäude, das den einheimischen Bürgern namens Kuhn gehörte. Dieses
Haus war das erste, das in ganz moderner Bauweise mit Eisenbeton erstellt wurde.
Nach dem Ersten Weltkrieg war darin zuerst die "Mährisch-Schlesische Bank" untergebracht,
später diente das Gebäude der Bank für Handel und Gewerbe bis zum Jahre der
Vertreibung.
Viel, viel mehr könnte rund um das alte Niedertor geschildert werden, von unruhigen
und friedlichen Zeiten, von Leid, Schmerz, Not und drückender Sorge, von harter
Arbeit, vom Kampf ums tägliche Brot, von Frohsinn und Freude, von Feiertag und
Festlichkeit, eben davon wie zu alten Zeiten und überall die Erdenbewohner vom
Los des Lebens in bunter Unterschiedlichkeit reichlich beschenkt oder kärglich
bedacht werden.
Literatur: Trautenauer Bezirkskunde, Trutnov znamy neznamy
Alfred Förster, früher Oberaltstadt Nr. 97