Quelle: Riesengebirgsheimat – Heimatblatt für die ehemaligen Kreise Trautenau und Hohenelbe – 16. Jahrgang

Das Leben auf den Straßen unserer Städte um die Jahrhundertwende

von Oberlehrer Alois Tippelt, Regensburg

Der 1. Weltkrieg und die großen politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen nach 1918 haben unseren Lebensstil grundlegend geändert. Seither sind 40 Jahre vergangen; und könnten wir noch als freie Menschen daheim leben, ich glaube, unsere Städte TRAUTENAU, HOHENELBE, ARNAU, FREIHEIT, BRAUNAU u. andere trügen heute das gleiche Gepräge wie alle westdeutschen Kleinstädte. Das 19. Jahrhundert ging wohl am 31. 12. 1899 zu Ende, aber im Grunde genommen dauerte es bis zum Jahre 1914. Für unsere älteren Landsleute, die sich noch an die "gute alte Zeit" vor 1914 erinnern können, ist es bestimmt reizvoll, Rückschau auf die Jahre der Jahrhundertwende zu halten. Wie war es damals z. B. mit dem Verkehr auf den Straßen unserer Städte im Vergleich zu heute?

Heute bietet der Straßenverkehr im allgemeinen – trotz der geradezu beängstigenden Zunahme an motorisierten Fahrzeugen – ein gut diszipliniertes Bild, dank der Organe, die diesen Verkehr regeln und dank der Teilnehmer, die schon aus bloßen Gründen der Schadloshaltung an Leib und Leben sich den Regeln des modernen Verkehrs freiwillig unterwerfen. Ganz anders im Jahre 1900; irgendeine Verkehrsordnung kannte man damals natürlich noch nicht. Die Fußgänger benützten nicht nur die Bürgersteige, sondern auch die Hauptstraßen als Geh- und Marschwege. Nahm der Straßenbetrieb einmal wirklich turbulente Formen an, was freilich sehr selten der Fall war, dann erschienen schwarzuniformierte und besäbelte Polizisten, die durch lautes Zurufen wie: "Platz machen!" – "Links gehen!", – "Vorsicht, langsam!" – "Vorwärts da!" etwas Ordnung in das Durcheinander zu bringen versuchten, aber allzuviel vermochten sie nicht auszurichten, denn nach Meinung der meisten Leute war die Polizei dafür nicht zuständig. Um die Jahrhundertwende gehörten die Straßen in der Hauptsache noch den Fuhrmännern und Fiakern, die mit langen Peitschen frisch darauflos knallten, sehr zum Ärger der Spätaufsteher und der Nervösen. Außer diesen ratterten überbeladene Bierwagen, von schweren Rossen gezogen, durch die Straßen und mühsam ächzten die Kohlenwagen über das holprige Pflaster. Die Kohlen waren zu hohen Pyramiden geschaufelt und auf diesen sa6en, schwarz wie Rauchfangkehrer, die Kohlenlader. Tagtäglich kamen viel Fahrzeuge in die Stadt gefahren. Die einen brachten Getreide und Kartoffeln, die anderen Schlachtvieh oder Holz, seltener Gemüse, es sei denn, daß "biehmsche" Händler mittels kleiner Droschken die Märkte mit Gemüse und vor allem mit viel Obst belieferten, zumal "biehmsches" Obst ja sehr gesucht war.

Zum täglichen Straßenbild gehörte auch die Paketpost. Auf einem ziemlich altmodisch aussehenden Kastenwagen saß behäbig der Postillion, mitunter uniformiert. Seine Gehilfen trugen die Pakete eilfertig in die Häuser, während der Postillion nur ganz ausnahmsweise vom Bock herunterstieg. Eine Plage jener Zeit waren neben Bettlern und bettelnden Straßenmusikanten bereits die Radfahrer, weniger wegen ihrer Zahl, als vielmehr wegen ihres Schellens. Zwischen Vorderrad und Lenkstange war eine Art Sirene angebracht, die durch das rollende Vorderrad in Aktion gesetzt wurde, und zwar so, daß sie laut zu heulen begann. Wie von einer Natter gebissen, schossen da die Leute auseinander – und nachher, dieses viele Schimpfen und Fluchen beiderseits der Straße. Gefürchtet wie der Satan selbst waren damals die wenigen Automobile und Motorräder. Kam so eine wildaussehende Benzinkutsche durch die Straßen gebraust und gehupt, da flitzten die Vorbeikommenden nur so in die Häuser oder auf geschützte Plätze, und ließen das unheimliche Ding mit großen Augen und staunend mit offenem Mund an sich vorbeifahren. Der Fahrer galt als ein Übermensch, der es verstand, den Teufel dienstbar zu machen.

Jeder Straßenlärm kam zum Schweigen, wenn ein Leichenzug die Straße passierte. Besondere Leichenhäuser gab es noch nicht und so wurden die Toten nach drei Tagen auf einem reich verzierten Leichenwagen vom Sterbehaus auf den Friedhof gefahren; bzw. wenn der Weg nur kurz war, trugen Freunde oder Vereinsmitglieder den Sarg feierlichen Schrittes zunächst in die Kirche und dann auf den Gottesacker. Immer wurde das Kreuz vorangetragen, der Geistliche und die Ministranten begleiteten den Zug, dem sich die Angehörige und Trauergäste anschlossen. Die Menschen, die dem Leichenzug begegneten, waren gerührt vor Ehrfurcht vor dem Tode, die Männer nahmen die Kopfbedeckung ab, die Fuhrwerke blieben stehen und alles verstummte vor der Majestät des Todes. Zu ähnlicher religiöser Besinnung führten auch die Hausbesuche der Geistlichen zu Schwerkranken. Der Priester trug das Allerheiligste in einer mappenähnlichen Trage an der Brust, voran schritt der Ministrant mit einer kleinen Glocke, und wenn Menschen begegnet wurde, machten diese das Kreuzzeichen oder knieten nieder, und der Priester gab ihnen den Segen.

Was die Kleidung betrifft, unterschieden sich die Menschen vor 1914 ganz gewaltig von jenen der Gegenwart. Vor allem die Frauen sahen wesentlich anders aus als heute. Auf dem Haupte trugen sie große Hüte, manchmal größer noch als ein Mehlsieb, mit wippenden, gewellten StrauBenfedern besetzt und mit langen Nadeln am Kopfhaar befestigt. Eine Vorschrift verlangte, daß die Spitzen der Nadeln mit einem Futteral zu versehen seien, weil dann die begleitenden und vorbeikommenden Personen von solch "behüteten" Frauen keinen "Schaden durch Stiche" zu befürchten hätten. Die vornehmsten Frauen trugen Gesichtsschleier, denn man spottete: "Ohne Schleier auf der Nase – eine traurige Base!". Ungewöhnlich lang waren die Kleiderröcke, am Saum mit einer kräftigen Borte versehen, damit der Stoff durch das Nachschleifen auf der Straße nicht auffranste.

Die Männer trugen meist einen steifen Hut, auch war damals der Halbzylinder sehr beliebt. In jedes Männer- und auch schon in jedes Jungmännergesicht gehörte der Backen- und Schnurrbart. "Je größer der Bart, desto schöner der Mann!" – "Ein strammer Schnurrbart ist der Stolz eines jeden Mannes.", stand hinten in der Zeitung zu lesen; und ein Bürstengeschäft inserierte: "Schon mit 13 Jahren flotter und kräftiger Schnurrbart bei stetem Gebrauch von "SCHNURRIX"! Für die zeitgemäße Pflege des Bartes war eine richtig sitzende Bartbinde unerläßlich, wie weiland Kaiser Wilhelm II. das Idol aller Bartbindenträger war, denn die hohe Majestät zierte ein Bart, der an Glanz und Exaktheit einfach nicht zu überbieten war. – Bevorzugt wurden enge Hosen, die auch noch den Absatz bedeckten. Die Absätze hatten noch keine Gummischeibenbeläge, so daß beim Gehen, insbesondere in den Lauben, es nur so schallte und hallte. Aber das gehörte zu jedem Mann mit Vollbart: wuchtig auftreten, energisch den Spazierstock schwingen und schwungvoll dahingehen!

Viel Farbe brachten in das Straßenbild die Uniformierten. Da waren zunächst die Polizisten, die stets gut gebügelt und gestriegelt hoheitsvoll durch die Straßen spazierten. Die Silberknöpfe an den Blusen und die Säbelscheiden blitzten nur so in der Sonne, und gelassen erhoben sie die Rechte an den Mützenrand zum Gruß. Immer trugen sie eine betonte Amtsmiene zur Schau und es war daher nicht verwunderlich, daß sie sich kaum mit guten Bekannten auf der Straße unterhielten, denn wenn man "im Dienste" war, hatte man Würde und Haltung zu wahren, das war man dem Staate schuldig.

In den Garnisonsstädten TRAUTENAU und JOSEFSTADT überwogen freilich die militärischen Uniformen. Da sah man die verschiedensten Waffenröcke vom satten Blau bis zum Weinrot – und eine Sensation waren immer die Offiziere: Schultern zurück, Brust heraus!, dazu eine tadellos sitzende Uniform und die hohe schwarze Kappe mit der schwarz-gelben Kaiserkokarde. O, war das ein Blickfang für jung und alt – und was die hübschen Mädchen betraf, geradezu bezaubernd und betörend. Höchstes Selbstbewußtsein verlieh dem Offizier das Portepee, das den Säbel zierte, den man sonntags beim Bummel etwas lässiger tragen durfte. In den Städten ohne Garnison waren auch die Mannschaftsdienstgrade hoch angesehen. Es waren die Urlauber, die sich stolz in ihren schmucken Uniform zeigten. Da schritt im dunkelblauen Rock ein Gefreiter der "Hoch- und Deutschmeister", dort ein blaugrauer Infanterist der 21er Feldjäger, dort ein hellbrauner Korporal des Genieregimentes F.J. I., dort ein dunkelbrauner Feldartillerist, dort ein rotbehoster Zugführer der "11. Husaren, Prinz Josef zu Windischgrätz", dort ein Wachtmeister der "Wallenstein'schen Dragoner" mit verschnürtem Waffenrock, von dem man sagte, er sei ein "Längerdienender", u. dgl. m. Viel bewundert und auch beneidet waren die "Einjährig-Freiwilligen", die "Intelligenzler" mit den Ärmelstreifen, die angehenden Reserveoffiziere, und tauchte schließlich ein Urlauber oder Reservist als neugebackener Leutnant auf, dann war das Maß voll. Jeder wollte ihn sehen und sprechen, nur ihm galten die Blicke auf dem sonntäglichen Bummel, der Herr Bürgermeister und alle anderen Honoratioren der Stadt blieben unbeachtet, wenn sie in seiner Nähe standen, nur er, der schmucke Offizier war der "Held der Straße". Selbst seine besten Freunde rechneten es sich als hohe Ehre an, wenn sie neben dem Herrn Leutnant, mit dem sie einst die Schulbank gedrückt hatten, einhergehen konnten, und was er von der hohen Kriegskunst und von seinen Erlebnissen zu erzählen wußte, das quittierten die Freunde mit einem verständnisvollen Lächeln. Freilich hat ihn so mancher im Stillen beneidet, weil Fortuna gerade ihm die Huld gewiesen hatte, Offizier zu werden.

Den ganzen Prunk, den man im Schrank verwahrte, trug man an den hohen Festtagen an die Sonne, also an Auferstehung oder an Fronleichnam. Wer vermochte da die großartigen farbigen Bilder zu schildern oder zu malen, die die zu Ende gehende kaiserliche Zeit noch bot? Da trug man alle Orden zur Schau, die Feuerwehr marschierte in goldblitzenden Helmen auf, die Veteranen mit wallenden Federbüschen und die Musik mit blitzblank geputzten Instrumenten. Die Staatsbeamten erschienen in Frack und Zylinder, manche sogar in Uniform, andere wieder in einem besonderen langen Staatsrock. Die schimmernde Wehr freilich übertraf alles. Zur Begleitung des Allerheiligsten wurde an Fronleichnam zum Absperren der vier "Evangelienplätze" Militär abkommandiert, sei es eine Kompanie oder gar ein Bataillon. Hinter dem Sanctissimum marschierte das Offizierskorps in großer Parade, gefolgt vom Bataillon mit gedämpften Schritt und Tritt, scharfe Kommandos durchschnitten die Luft, zackige Gewehrgriffe rauschten windstoßartig über das Pflaster, die Musik spielte feierliche Choräle und alles war in diesen erhabenen Sekunden beglückt und ergriffen. Hoffentlich hatte damals der liebe Gott an diesen prunkenden Vorgängen das gleiche Wohlgefallen wie die staunenden Massen.

Wie groß die Beliebtheit des Militärs jener Jahre in den Städten war, zeigte sich unter anderm auch wenn die Einheiten singend in die Quartiere einrückten oder gar mit klingendem Spiel aus dem Manöverfelde durch die Straßen marschierten. Dann war wirklich alles auf den Beinen. An der Spitze ritt der Herr Hauptmann mit versteinertem Gesicht, dann die in Züge geteilten Kompanien, dazwischen fuhren furchterregende Geschütze und am Schluss blumengeschmückte Trainwagen. Das freudige Zurufen und Winken der die Straßen umsäumenden Kinder, winkten mit bunten Tüchern die Mädchen, und in den Fenstern und Türen standen die alten Veteranen von 1859 oder 1866, salutierten und dachten dabei gerührt an die heißen Tage von Königgrätz.

Gelegenheit zu feierlicher Begegnung auf der Straße boten auch die sonntäglichen Standkonzerte. Pünktlich um 11 Uhr marschierte auf dem Ring die Stadtkapelle auf, um zünftige Weisen in bunter Folge einem frohgelaunten Publikum zum besten zu geben. Der Herr Kapellmeister blieb die ganze Stunde über beharrlich in der Mitte des Kreises stehen, blätterte manchmal etwas nervös in einem Paket Noten, sprach aber grundsätzlich mit niemanden ein Wort, selbst das Zuzwinkern der engsten Angehörigen ließ ihn völlig kalt. Um die im Kreis stehenden Musiker prominierten die Zuhörer, aber meist nur in den Pausen, denn sobald der Dirigent seinen Taktstock hob, blieb alles wieder stehen und lauschte andächtig einem Walzer oder einer Ouvertüre oder einem schmetternden Marsch.

Über die Mittagsstunden wurde es auf den Straßen ziemlich still und an Sonntagen waren die Straßen mitunter wie ausgestorben. Erst so in der 3. Stunde wurde es wieder lebendiger, insbesondere an Volksfesttagen, wenn der Durchmarsch eines Festzuges angekündigt worden war. Dann war wieder alles auf den Beinen, denn jeder wollte an dem Jubel und an der Ausgelassenheit Anteil haben. War der Festzug vorbeigezogen, dann reihte sich alles ein zum Marsche auf die Festwiese oder in den Festgarten.

Wochentags boten die Straßen am Nachmittag im großen und ganzen das gleiche Bild wie am Vormittag. Die Fuhrwerker und Händler rüsteten sich zur Heimfahrt, aus den Schulen kamen lärmende Kinderscharen und aus den Fabriken müde und erschöpft die Arbeiter.

Sehr bald wurde es am Abend in den Straßen völlig ruhig. Man war froh, daß man sich nach der Tageslast dem Heim und der Familie widmen konnte. Nur sonntags wurde das eine oder andere Lokal aufgesucht, denn andere Vergnügungen kannte man noch nicht. Freilich ging es in den verrauchten Gaststätten mitunter sehr turbulent zu, wenn das liebe Bier zu flüssig war und die Sinne vernebelte. Wer regte sich dann schon viel auf, wenn um Mitternacht der eine oder andere Zecher still oder laut – eben jeder nach seiner Weise – einsam durch die leeren Straßen dahinwandelte. Nur der freundliche Mond begleitete ihn auf seinem Heimwege und ihm zu Ehren sang er, gerührt von Herzen:

"Guter Mond, du gehst so stille, durch die Straßen..."

Freilich, damals – wie heute – wurde solchen Mondscheinsängern die bierselige Stimmung durch schon schlafende oder noch wartende Ehefrauen durch eine Gardinenpredigt gründlichst zerstört, aber bald schlief friedlich die ganze Stadt bis zum nächsten Morgen.

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